Warm Data
Morehshin Allahyari, Danielle Brathwaite-Shirley, Gelare Khoshgozaran, Mary Maggic, Luiza Prado de O. Martins, Tiare Ribeaux
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Mit Warm Data präsentiert der Kunstverein Braunschweig eine Online-Ausstellung in drei Kapiteln, die über die untenstehenden Links erreichbar ist. Die Begrifflichkeit Warm Data steht für künstlerisch-aktivistische Versuche online Plattformen zu etablieren, in denen persönliche Informationen geteilt werden können, ohne ihre Verfasser_innen zu identifizieren. Gemeint sind Informationen oder künstlerische Gesten, die auch von der Erfahrung politisch überhört, marginalisiert oder bedroht zu werden, zeugen. „We are here because of those that are not“ (Brathwaite-Shirley). Die involvierten Künstler_innen verbindet dabei ein Interesse an queer-feministischen Utopien und Mythologien, in denen sie Alternativen zu einer nach wie vor kolonial und heteronormativ geprägten Gegenwart und ihren Folgen für Identität, Technologie, Sexualität Gesundheit und Spiritualität formulieren.
Mithilfe komplexer Texturen, die binären Zuschreibungen bewusst Ambivalenz und Opazität entgegensetzen, destabilisieren die Arbeiten von Warm Data die Logik quantifizierbarer Daten. Regelmäßig zieht in den nächtlichen Straßenszenen des interaktiven Computerspiels von Danielle Brathwaite-Shirley’s Black Trans Archive Nebel auf. So wird dem Diffusen, Unberechenbaren und Nicht-Benennbaren im Sinne des Denkers Édouard Glissant eine besondere Qualität zugestanden. Dabei entwickelt sich die Arbeit entlang von Geschichten Schwarzer trans Personen, die in Zusammenarbeit mit der Künstler_in auch an der Konzeption und Programmierung beteiligt sind. Je nachdem, welche Angaben zu Beginn des Spiels bezüglich Gender, Identität und Privilegien gemacht werden, ermöglicht die Arbeit gänzlich verschiedene Erfahrungen. Auf diesem Weg werden Schutz- und Erfahrungsräume geöffnet, in denen widerständige Gesten erprobt und überprüft werden. Gleichzeitig wirken Mechanismen von Ein- und Ausschluss, die auch in der Arbeit She Who Sees The Unknown: The Archivevon Morehshin Allahyari strukturbestimmend sind. Allahyaris Ergebnisse mehrjähriger Recherchen über antike weibliche/nicht-binäre/queere persische und arabische Figuren sind auf der zwiebelförmig angelegten Webseite in vier Schichten hinterlegt. Die Zugänglichkeit wird von verschiedenen kulturellen und sprachlichen Codes begrenzt, womit Allahyari auch auf die Problematik von Open-Source-Anwendungen und nur vermeintlich frei einsehbarer staatlicher Büchereien und Archive anspielt. Nachdem der ursprüngliche Traum einer demokratiefördernden Wirkung offener sozialer Netzwerke im Angesicht hyperkommerzialisierter Facebook-, Instagram-, WhatsApp-, WeChat-, Douyin/ TikTok-, und Twitterblasen ernüchtert ist, erschließen die Künstler_innen der Ausstellung neue sichere Räume der Zusammenkunft, die sich der Indexikalisierung mächtiger Suchmaschinen zumindest teilweise entziehen. Dabei wird das Archiv als ein Ort der „Akkumulation geteilter Empathie“ wie es Mary Maggic formuliert, neu gedacht: Es wird zum Schutzraum und Diskursort der Frage, welche Körper, Objekte, Praktiken und Anliegen (nicht) gehört wurden und zukünftig berücksichtigt werden sollten. Ganz in diesem Sinne weitet Tiare Ribeaux mit ihrer Arbeit Pele Plastiglomerate noch einmal die Perspektive und rückt auch Allianzen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur_innen ins Blickfeld. In Form der haitianischen Gottheit Pelehonuamea und dem mit ihr assoziierten Vulkan Kilauea treffen in ihrer Zwei-Kanal-Videoarbeit mit LiDAR-Scans und Drohnenaufnahmen sowie haitianischen Chorstimmen auf Sound- und Bildebene, konträre Anschauungen und Wissensproduktionen aufeinander. Von aufwendigen Monitoring-Prozessen überwacht, wird die austretende Lava hier zum Symbol eines andauernden Techno-Kolonialismus, aber auch Sinnbild von Hoffnungen auf (Selbst-)Bestimmung und Heilung.
In einer Würdigung von Künstler_innen, die sich häufig ohne institutionelle Unterstützung selbst organisieren, gegenseitig bestärken und fließend zwischen den Rollen als Kurator_innen und Künstler_innen bzw. Gastgeber_innen und Gästen wechseln, sind im Rahmen von Warm Data Morehshin Allahyari, Mary Maggic und Luiza Prado de O. Martins eingeladen worden, jeweils eine künstlerische Arbeit vorzustellen und zu besprechen.
- Morehshin Allahyari: She Who Sees the Unknown: The Archive
- Danielle Brathwaite-Shirley: Black Trans Archive
- Tiare Ribeaux: Pele Plastiglomerate, 2019
Künstler_innen/Kurator_innen: Morehshin Allahyari, Danielle Brathwaite-Shirley, Gelare Khoshgozaran, Mary Maggic, Luiza Prado de O. Martins, Tiare Ribeaux
Konzept: Nele Kaczmarek -
MOREHSHIN ALLAHYARI
She Who Sees the Unknown: The ArchiveAuf meinem Weg durch das Labyrinth des Archivs komme ich zur vierten und letzten Figur: einem Hirsch mit der Nummer ۶ auf der Stirn. Bedingt durch meine Erfahrungen mit Computerspielen und ihrer Logik, warte ich ungeduldig auf meine Belohnung dafür, dass ich es bis hierhin geschafft habe. Wenn ich auf das Herz des Tieres klicke, komme ich zur ältesten Version des Buches, Ajā'ib al-makhlūqāt wa gharā'ib al-mawjūdāt auf Arabisch, einem sexy PDF mit einer beeindruckenden Größe von 213,1 MB. Diese Belohnung erfüllt meine Erwartungen, eine Version aus dem 7. Jahrhundert, Lunar Hijri (12. Jh. n. Chr.). Ich erfahre bald, dass dieses älteste Exemplar in der Bayerischen Staatsbibliothek in München aufbewahrt wird. Ich verlasse den Browser-Tab des Archivs, um ein Kaninchenloch voll Wikipedia-Links und Biografien von Orientalisten und Manuskriptsammlern zu durchsuchen. Johann Albrecht Widmannstetter und Johann Jakob Fugger: Ich schreibe diese Namen in einen Dokumententwurf. Bei meinem nächsten Schengen-Visumantrag, denke ich mir, werde ich als Grund für eine Reise nach Deutschland einen „Besuch der Archive von Widmannstetter, dem Begründer des europäischen Orientalismus, dessen gesamte Manuskriptsammlung vom Herzog von Bayern aufgekauft wurde“ angeben.
Ich kehre zu der Registerkarte zurück, auf der die PDF-Datei geladen wird, und schätze insgeheim, dass die Datei mit einem Klick nicht automatisch auf meine lokale Festplatte heruntergeladen wird. Nachdem ich kürzlich 1 TB Filme, Musik, PDFs und zufällige Dateien durchgesehen habe, die ich im Alter zwischen 14 und 24 Jahren angesammelt habe, zögere ich mehr als ein Jahrzehnt später, noch mehr lokal herunterzuladen. Ich möchte, das Dinge „da sind“, wenn ich sie brauche, ohne sie horten, archivieren, strukturieren und für sie verantwortlich sein zu müssen – ein digitaler Verwalter meiner Datenbabys zu sein, war manchmal anstrengend und stressig. Ich beginne in meinem Browser durch dieses PDF zu blättern. Ich lese einige, schaue aber meistens durch die Bilder. Ich kichere über das Bild zweier verkehrter Figuren, als ich ihre Namen هاروت و ماروت erkenne. Die Versionen ihrer Geschichte variieren je nachdem, wen Sie fragen, aber hier ist eine:
Eines Tages rühmten sich Gottes Engel, dass sie Gott gegenüber niemals ungehorsam sein würden, wenn sie die Chance hätten – so wie es die Menschen täten. Um ihnen das Gegenteil zu beweisen, ließ Gott die Engel zwei aus ihrem Kreis auswählen, die zur Erde herabsteigen würden. Harut und Marut wurden für die Reise auserkoren. Auf der Erde trafen die beiden Zohreh (Venus), die versprach, dass sie sich mit ihnen intim werden würde, wenn sie mit ihr den geheimen Namen Gottes teilen würden, der erforderlich ist, um in den Himmel aufzusteigen. Harut und Marut teilten den Code mit Zohreh, aber bevor sie das zum Aufstieg in den Himmel benötigte Wort aussprechen konnte, verwandelte Gott sie in einen Stern und schickte sie in den Himmel. Gott verbot den beiden Engeln dauerhaft, in den Himmel zurückzukehren, weil sie Gottes geheimen Namen geteilt hatten. Nachdem sie Buße getan hatten, gab Gott Harut und Marut die Möglichkeit, zwischen Bestrafung in diesem Leben oder im Jenseits zu wählen. Die Engel wählten die Bestrafung in diesem Leben und seitdem sind sie kopfüber zwischen Himmel und Erde aufgehängt.
Auf meinem Weg durch die verschiedenen Phasen des Archivs habe ich die Anweisungen zum Knacken der Zugangscodes genau beachtet. Neben einer Übersicht über Dimensionen und Zahlen sind jedem Talisman auch zusätzliche Informationen in Bezug auf die materielle Welt zugeschrieben. Ich begann mich zu fragen, ob ich bestraft würde, wenn ich nicht alle Ebenen durchdringen würde. Und was wäre, wenn meine Gier, so viele PDFs wie möglich herunterzuladen, mich wie Harut und Marut suspendieren würde, weil ich mich nicht vollständig an diese Anweisungen halte?
Auf der Info-Seite des Archivs gibt es einen Haftungsausschluss, in dem die Betrachter_innen aufgefordert sind, „sanft und respektvoll mit diesem (und allen ähnlichen) Kulturarchiv(en) umzugehen“. Ich stelle mir ein Museum von Harut und Marut vor, in dem alle, die nahmen, stahlen, verwüsteten, töteten und nicht respektierten, wiederbelebt und für immer auf den Kopf gestellt werden. In diesem Museum würde es eine Halle mit suspendierten Widmannstettern und Fuggern geben, in der die Menschen, ihre Manuskripte, Leben, Länder und Kulturen frei studieren und für ihr Wissen über okkulte Praktiken gut nutzen könnten. Wenn Sie möchten, dass ein solches Museum entsteht, bitte ich Sie, sich mir anzuschließen, indem Sie die folgenden Anweisungen befolgen:
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DANIELLE BRATHWAITE-SHIRLEY
Black Trans ArchiveWas aussieht wie ein Meer von Körpern, die sich rhythmisch zu beruhigenden und brausenden Harmonien bewegen, fordert uns auf, auf den Boden zu starren und uns daran zu erinnern, dass „wir für all diejenigen, die unter dieser Erde begraben sind, verantwortlich sind …“.
Als eine der wenigen Glücklichen konnte ich das Black Trans Archive als eine ganz und gar immersive Installation in der Science Gallery London erleben. Sie war Teil der Ausstellung Genders: Shaping and Breaking the Binary, die Anfang 2020 eröffnete, kurz bevor die Covid 19-Pandemie volle Fahrt aufnahm. Zum Höhepunkt der weltweiten anti-rassistischen Protestwellen und der wachsenden Sichtbarkeit von BIPoC trans Menschen als Hochrisikogruppe, ist das Black Trans Archive eine der wichtigsten Netzkunst-Arbeiten der letzten Zeit.
Danielle Brathwaite-Shirley – Künstler_in, Animateur_in und Elternteil – konzipierte das Projekt über sechs Monate hinweg in Workshops mit Mitgliedern der Schwarzen trans Gemeinschaft in Großbritannien und Berlin. Vom Spielplan, den Animationen, dem Soundtrack, den entwickelten Charakteren bis hin zur Ästhetik ganz allgemein, wird deutlich, dass das Black Trans Archive aus einem zutiefst persönlichen und authentischen Gefüge heraus entstanden ist. Spieler_innen bewegen sich entlang eines Entscheidungsbaums durch die Arbeit, der von der eigenen Identität abhängt und treffen auf verschiedene Charaktere oder Avatare, die von real existierenden Schwarzen trans Menschen erdacht wurden.
Den Schwarzen trans-Tourismus einer cis-verkörperten Öffentlichkeit zu Recht ablehnend, hat Brathwaite-Shirley bewusst darauf geachtet, ein Spiel zu programmieren, das Traumata Schwarzer trans Menschen nicht reproduziert oder für ein Kunstpublikum leicht konsumierbar macht. Im Gegenteil transportiert die Künstler_in dich in eine Welt, in der Schwarze trans Stimmen endlich beschützt, gehört werden, um zu leben und aufzublühen.
Während manche die Arbeit eher als kritisches Spiel oder als ein interaktives Kunstwerk denn als traditionelles Archiv bezeichnen, definiert Brathwaite-Shirley mit ihrer Arbeit in jedem Fall neu, was ein Archiv (auch) sein kann: eine Akkumulation geteilter Empathie. Im Sinne Brathwaite-Shirleys wächst das Black Trans Archive als ein offenes Projekt, das um weitere individuelle Geschichten erweitert wird, die gehört und erhalten werden sollen. Mit der Hoffnung, dass die Arbeit weitere Schwarze trans Künstler_innen und trans Designer_innen dazu inspiriert, Erfahrungen zu teilen und Raum in einer Gesellschaft zu beanspruchen, die sie scheinbar vergessen hat.
Text: Mary Maggic
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TIARE RIBEAUX
Pele PlastiglomerateIn einem Gespräch mit dem karibischen Dichterkollegen Derek Walcott, das 1991 im Poets House geführt wurde, bemerkte der martiniquische Philosoph Édouard Glissant, dass die Prozesse, die die Formierung von Identität in westlichen Kulturen ermöglichten, „eine Art von Undurchsichtigkeit […]“ benötigten, also Formen der „Abgrenzung und Ablehnung, die einen écran – einen Schirm zwischen Identität und Anderem […]“ aufspannen.
Die Zweikanal-Videoarbeit Pele Plastiglomerate von Tiare Ribeaux ist ein über eine Leinwand erfahrbares Kunstwerk im virtuellen Ausstellungsraum New Art City. Dennoch fühlt sich Ribeauxs Bildschirm eher wie eine Haut an, wie ein Behälter, Schutzschirm oder eine Grenze im Sinne des écran, als das von Édouard Glissant theoretisierte Trennende.
Auf dem ersten Video schwebt die Kamera über der 3D-gescannten Oberfläche des Kilauea-Vulkans; begleitet von Gesängen zu Ehren der vulkanischen Gottheit Pelehonuamea. Unerwartet dringt die Kamera durch die Oberfläche hindurch – doch statt in den Bauch der Erde vorzustoßen, werden wir durch die gescannte Haut und in die Leere der Rückseite eines virtuellen Modells der Erde geführt. Es gibt keine Lava, den hämmernden Puls des Planeten; stattdessen Gesänge und die knisternden Sounds der Kilauea, die uns mit dem lebendigen Körper der Erde verbinden.
In dem zweiten Video wird Archivmaterial von Kilauea präsentiert: geschmolzenes Gestein fließt und stapelt sich wie die weichen Falten eines Bauches. Lava fließt als Saft – die dicke Substanz des Lebens, die inmitten der Verwüstungen der Kolonialherrschaft hartnäckig aus der Erde sprudelt. Sie verschmilzt mit den Artefakten des zeitgenössischen Kapitalismus: Plastikstückchen und Mischmüll, einem iPhone, Metallketten; sie verschlingt Bäume und Autos in einem stetigen, langsamen aber unaufhaltsamen Vorgang. Ihre sich verhärtende Oberfläche wird runzlig wie die Haut unserer Vorfahren – sie sind schließlich Teil dessen.