Nadia Belerique, Jeneen Frei Njootli, Kathy Slade
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Die aktuelle Ausstellung vereint Werke von NADIA BELERIQUE, JENEEN FREI NJOOTLI und KATHY SLADE in der Villa Salve Hospes und auf dem Außengelände des Kunstvereins.
In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigen Nadia Belerique (*1982 in Toronto, Kanada) das Verhältnis von Objekt und (fotografischer) Repräsentation sowie die Möglichkeiten subtiler Manipulationen der Wahrnehmung im Raum. Mit gezielt verfremdeten Alltagsobjekten und aufgerufenen Symbolen legt sie narrative Spuren, die auf verschiedene, sich mitunter widersprechende Erzählungen verweisen. Dabei werden Momente der Intimität und des Rückzugs vor dem Hintergrund verschwimmender Grenzen zwischen privatem und öffentlichem, sowie psychischem und physischem Raum erkundet.
Kultureller Hintergrund und persönliche Erfahrungen prägen die interdisziplinäre Praxis von Jeneen Frei Njootli (*1988 in Whitehorse, Yukon, Kanada). Die Videos, Soundarbeiten, Installationen und Performances sind inspiriert durch die Vuntut Gwitchin Nation, der Frei Njootli angehört – einer kanadischen indigenen Community, die sich bis zum heutigen Tag selbst verwaltet. Frei Njootlis künstlerische Arbeit ist stark von dieser Gemeinschaft und deren Lebensweise bestimmt. So werden traditionelle Materialien und Gegenstände, die mit dem Gedächtnis an Vorfahren eng verwoben sind, nach deren Beziehungen zu Handel, Zeremonie, Politik und Körper befragt.
Kathy Slades (*1966 in Montreal, Kanada) expansive, multidisziplinäre künstlerische Praxis stellt mit Hilfe von Textilien, Skulpturen, Publikationen, Sound-, Film- und Videoarbeiten Bezüge zu Feldern visueller und Popkultur oder geschlechtsspezifisch konnotierter Arbeit her. Mit einem Schwerpunkt auf das Publizieren und Bücher im Allgemeinen, gibt die Ausstellung einen Überblick über Slades Praxis aus den vergangenen zwei Jahrzehnten. Verhandelt wird über die Rollen von Künstler_in, Verleger_in oder Lehrer_in.
Kurator_innen: Franz Hempel, Jule Hillgärtner, Nele Kaczmarek, Julia Lamare (CAG)
GÄSTEZIMMERIm Rahmen der aktuellen Ausstellung sind DOKUARTS und das Braunschweig International Filmfestival mit von Andreas Lewin ausgewählten filmischen Beiträgen zum Thema Kanada zu Gast.
Kurator: Andreas Lewin
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Die Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit der Contemporary Art Gallery (CAG), Vancouver. Sie ist Teil von Kanadas Kulturprogramm als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2020/21 und wird unterstützt durch das Canada Council for the Arts, die Regierung von Kanada (Botschaft von Kanada), British Columbia Arts Council und das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur.Der Kunstverein Braunschweig e.V. wird gefördert von Stadt Braunschweig – Fachbereich Kultur und Wissenschaft.
Kunstvermittlung wird gefördert von:
Das Gästezimmer wird ermöglicht durch:
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Nadia Belerique interessiert, wie sich physische Verfassungen, mentale Zustände, in Objekten oder – genauer noch – in spezifischen Konstellationen von Objekten verstetigen und somit für Dritte erfahrbar machen lassen. Bewusste und unbewusste Bedürfnisse, Wünsche und Stimmungen fließen in ihre Arbeiten ein, wobei mit Türen, Schlüsseln, Leuchten oder Jalousien regelmäßig Gegenstände und Symbole aus dem häuslichen Umfeld zitiert werden. Im Ausstellungsraum kombiniert, entwickeln Beleriques Werke dann ein Eigenleben und kreieren im Zusammenspiel mit den Rezipierenden wechselnde Atmosphären und Erzählstränge. Dabei ist Beleriques Arbeit eng mit der fotografischen Praxis verbunden – im Sinne einer besonderen Sensibilität für die Bedingungen ihrer Produktion, (digital vermittelter) Wahrnehmung, aber auch ihrer Manipulationsmöglichkeiten. Regelmäßig überwindet die Künstlerin die Grenzen des fotografischen Mediums dabei zugunsten raumgreifender Interventionen: „Ich denke über Installationen, aber auch über Fotografien dreidimensional nach. Der Raum, in dem Sie sich befinden ist also ein Foto, das Sie unmittelbar betreten können.“ (Nadia Belerique, 2020)
Mit How Long Is Your Winter (2020) zeigt Belerique eine neu entwickelte kinetische Installation, in der sich animierte Jalousien – einer unbekannten Choreographie folgend in ihrem ganz eigenen Rhythmus begegnen und abwenden. Weitestgehend unabhängig von den existierenden Fensteröffnungen platziert und somit von ihrer ursprünglichen Funktion befreit, definieren die Lamellen einen frei bleibenden Ausschnitt und Ausblick auf die dahinterliegende Wand- und Fensterfront. Ergebnis ist eine vor Ort produzierte Abfolge von Bildern, auch unvorhersehbarer Elemente, die einen beinahe filmischen Charakter entwickeln: Es öffnen sich Fenster in eine alternative zeitliche und räumliche Realität, die unsere Alltagswahrnehmung verunsichern.
Daniella Sanader über Nadia Belerique’s HOLDINGS (Ongoing), 2020
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Mit den Jalousien, beziehungsweise dem bewussten Akt des Schließens der Jalousien ist dabei immer auch eine Trennung der Verbindung zwischen Innen- und Außenwelt, ein Moment der Intimität und des Rückzugs verbunden, der in verwandter Form auch die Fotografien Doors (2018) prägt. Zwei Perspektiven auf eine sich schließende (oder öffnende?) Tür blicken den Betrachtenden hier wie ein Augenpaar entgegen. Die von der Tür getrennten Räume bleiben im Unbestimmten, eher scheint die Begierde nach einem nicht oder noch nicht greifbaren dahinterliegenden Selbst porträtiert. Schwellen, die den Übergang zwischen verschiedenen physischen und psychischen Sphären andeuten. In der Verbindung mit den aufgetragenen Stickern werden leise Kindheitserinnerungen, nostalgische Gefühle von Geborgenheit, Fantasie aber auch Verschleierung geweckt. Die Platzierung der Aufkleber auf der Innenseite des Rahmenglases betont zudem die vermittelte Rezeption, in der sich Glas (Fotolinse) zwischen Fotografierenden und beobachteter Realität und gleichzeitig zwischen fotografischem Abbild und körperlicher Wahrnehmung (Rahmen) schiebt.
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Auch die erstmals präsentierte Serie HOLDINGS (Ongoing) (2020) versteht sich als eine Art „offene Sammlung möglicher verketteter Szenarien“ (Nadia Belerique, 2020). Einzeln im Raum stehend oder zu einer losen Mauer gruppiert, begegnen die Besucher_innen einer Reihe industriell gefertigter Kunststofffässer, auf deren Oberflächen sich Spuren der Bearbeitung vor Ort, aber auch vorangegangener (und imaginierter zukünftiger) Nutzungen und somit unterschiedliche zeitliche Verweise offenbaren. Sie sind teilweise mit vor Ort gesammeltem Regenwasser gefüllt, ein Kreislauf von Flutung und geflutet sein deutet sich an. Von der milchigen Hülle geschützt, zeigen sich im Inneren der Fässer Gabel, Messer, Kleidung – profane Alltagsgegenstände, die jedoch alle eine Verbindung zur Hand und Berührung eint. Die Fässer wurden ursprünglich für den Transport von Lebensmitteln produziert, sind anschließend aber häufig für den Versand persönlicher Habseligkeiten in Migrationsbewegungen nachgenutzt worden. Somit erinnern sie an das Verlangen zu besitzen und zu konservieren, das unsere Beziehung zu Objekten, Subjekten, aber auch die fotografische Praxis selbst maßgeblich prägt, die dem Wunsch ephemere Erinnerungen ‚haltbar zu machen‘ folgt.
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Auch die erstmals präsentierte Serie HOLDINGS (Ongoing) (2020) versteht sich als eine Art „offene Sammlung möglicher verketteter Szenarien“ (Nadia Belerique, 2020). Einzeln im Raum stehend oder zu einer losen Mauer gruppiert, begegnen die Besucher_innen einer Reihe industriell gefertigter Kunststofffässer, auf deren Oberflächen sich Spuren der Bearbeitung vor Ort, aber auch vorangegangener (und imaginierter zukünftiger) Nutzungen und somit unterschiedliche zeitliche Verweise offenbaren. Sie sind teilweise mit vor Ort gesammeltem Regenwasser gefüllt, ein Kreislauf von Flutung und geflutet sein deutet sich an. Von der milchigen Hülle geschützt, zeigen sich im Inneren der Fässer Gabel, Messer, Kleidung – profane Alltagsgegenstände, die jedoch alle eine Verbindung zur Hand und Berührung eint. Die Fässer wurden ursprünglich für den Transport von Lebensmitteln produziert, sind anschließend aber häufig für den Versand persönlicher Habseligkeiten in Migrationsbewegungen nachgenutzt worden. Somit erinnern sie an das Verlangen zu besitzen und zu konservieren, das unsere Beziehung zu Objekten, Subjekten, aber auch die fotografische Praxis selbst maßgeblich prägt, die dem Wunsch ephemere Erinnerungen ‚haltbar zu machen‘ folgt.
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Mit der Skulptur Everything, All The Time (2020) findet Nadia Belerique schließlich eine Form um ihre eigene körperliche Abwesenheit zu thematisieren. Wie ein Liebespaar oder eine Rubinsche Vase stehen sich die gesplitteten Hälften eines Geländerpfostens – erneut ein vertrautes architektonisches Detail aus dem häuslichen Umfeld – gegenüber. Die ansonsten verborgenen Innenseiten sind aufwendig mit Glaselementen verziert, wobei sich die Silhouetten zweier Hände als ein Schatten der Künstlerin abzeichnen, die hierneben im Ausstellungsraum unsichtbar bleibt.
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Ein wummernder Sound, der uns nicht bloß hören, sondern vielmehr tief im Inneren eine Vibration fühlen lässt. Dazwischen helle Klänge, Schwingungen, Schaben, Schleifen – das akustische Material von crushed into these feet (2018) von Jeneen Frei Njootli wurde teilweise mittels eines Kontaktmikrofons erzeugt, das an eine Nähmaschine fixiert worden war. Durch den Ort seiner Präsentation bleibt das SoundStück nicht in sich geschlossen: Straßen- und Alltagsgeräusche mischen sich unter und lassen die Grenze zwischen den diversen Soundquellen im Außenraum verwischen.
Jene Offenheit und Flüchtigkeit sind für Jeneen Frei Njootli wichtig und auch für die zweite auf dem Vorplatz installierte – oder vielmehr stattfindende – Arbeit charakteristisch: Fighting for the title not to be pending (2020). Unzählige, winzige Glasperlen fassen die äußere Kante der großen Steinplatten ein, die zum Treppenaufgang der Villa lotsen. An mehreren Stellen vor und im Ausstellungshaus füllen die Perlen Fugen, sind in Winkeln und entlang von Wänden angehäuft. Viele werden allmählich aus dem Sichtfeld verschwinden und manche werden noch nach Jahren zu finden sein. Die anfängliche Menge der Perlen entspricht dem Körpergewicht von Jeneen Frei Njootli und thematisiert als künstlerische Geste, die physische An- und Abwesenheit vor Ort im selben Moment. Material und Inszenierung schließen aus, die Arbeit jemals wieder vollständig herzustellen und erzählen so von der Unwiederbringlichkeit. Nicht zuletzt verweist das In-Eins-Fallen von Körper und Werk auf den Zusammenhang von Land und dessen Enteignung, der die Geschichte (und Gegenwart) indigener Bevölkerungsgruppen weithin prägt und zentraler Teil der Lebensrealität von Frei Njootli selbst ist. Somit ließe sich der Körper immer auch als markante Zuspitzung eines eigenen Territoriums begreifen, das auf koloniale, ökonomische oder geschlechtsspezifische Weise bedroht wird. -
Das Video Epistemic leghold trap¹ (2020) zeigt feingliedrige Hände, die Ohrringe mit einer langen, in sich verflochtenen Kette aus schwarzen Glasperlen halten und von oben nach unten durch die Bildfläche führen. Mehrfach schnell hintereinander geschnitten vermittelt sich eine fallende Bewegung, die durch andere Detailaufnahmen unterbrochen wird. Diese Bilder sind so fragmentarisch wie die sie begleitende Tonspur, die Gewehrschüsse, Gesprächsfetzen, Geräusche und eine singende, rauchig milde Frauenstimme ineinander gleiten lässt. Bruchstückhafter Sound, knappe Bildausschnitte und die Unschärfe in den Aufnahmen fungieren nicht bloß als formale Mittel, sondern stehen auch für eine Haltung, die mit dem Blick derer taktiert, die dieses Video betrachten: Die Produktion und Verarbeitung von Perlen haben in der Geschichte und Kultur der Vuntut Gwitchin Community², der Jeneen Frei Njootli angehört, eine tief verankerte, kulturelle Bedeutung. Daher geht es angesichts des Perlenmotivs im Video auch darum, einen allzu unkontrollierbaren, mächtigen Blick der Rezipierenden zu vermeiden. Das konsequente Zeigen von Details resultiert umgekehrt darin, dass die Sicht aufs Ganze verwehrt bleibt. Umso mehr bleibt Frei Njootli die bildgestaltende, den Blick in seine Grenzen weisende, souveräne Instanz. Das Land, der Körper, das Handwerk, die Tradition wären für die indigene Community im existentiellen Sinne zu bedeutungsvoll, um sie rückhaltlos preiszugeben.
¹ Aus Stahl gefertigte Tierfalle mit zwei Fangbügeln, die beim Tritt auf den Teller auslöst und das gefangene Tier am Bein festhält. Mit dieser Tierfalle sind Diskussionen verbunden, wie Tierschutz und kulturelle Traditionen in Einklang zu bekommen sind.
² Eine sich selbst verwaltende, indigene Community im nördlichen Yukon nahe der Grenze zu Alaska. -
Auch mit Untitled (2017), einer Baseball-Kappe, deren Schirm mit Perlen umstickt ist und von dem aus lange Fransen herabhängen, zeigt Frei Njootli ein Accessoire mit kultureller Signifikanz, das über den Blick als machtvolle Geste reflektieren lässt: Die Fransen erzeugen eine Art spektakulären Schutzraum, der im selben Moment Blicke auf sich lenkt und abwehrt.
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Ähnlich wie die Kappe verweist die Kapuzenjacke von More than medicine should burn for you (2020) auf den abwesenden Körper, den sie einst bekleidete. Die Arbeit entstand als unmittelbare Reaktion auf den Mord an Chantel Moore, einer jungen indigenen Frau, die am 4. Juni 2020 von einem Polizisten erschossen wurde; gleichzeitig ist sie eine grundsätzliche Anklage „des anhaltenden Völkermords an indigenen Völkern und der Polizeigewalt gegen die BIPOC³-Gemeinschaften.“ (Frei Njootli, 2020)
³ BIPOC steht für Black / Indigenous / People of Color. -
„Textere“ ist die lateinische Wurzel des Wortes „Text“ und bedeutet soviel wie verbinden, konzipieren, bauen oder, wörtlich, weben. Für die Arbeiten der kanadischen Künstlerin Kathy Slade spielt das Verhältnis zwischen Kunst und Text, Text und Textilie eine zentrale Rolle und ihre Ausstellung im Kunstverein Braunschweig nimmt diese Verbindung gezielt auf. Unter der Verwendung von Stoffen, Drucken und Video untersuchen und hinterfragen die Arbeiten Begriffe wie den des Buchs, Lesens und Publizierens und reflektieren die Rolle der Künstlerin, Herausgeberin und Lehrerin. In ihren Betrachtungen von historischen und popkulturellen Momenten und Ereignissen entwickelt Slade ihre Ideen, visuellen Inhalte und Bildsprache dabei mit Strategien des Kopierens und Wiederholens. Kurator Jordan Strom beschreibt treffend: „Die Künstlerin sieht von der individuellen Geste ab und widmet sich stattdessen der Untersuchung vorhandener Bilder und Darstellungen.“¹
Slade beschäftigt sich oft mit der Verschränkung von Kunst und Literatur, so verweisen etwa After Agnolo Bronzino Portrait of a Young Man (2020) und After Agnolo Bronzino Portrait of Laura Battiferra (2020) auf den Dichter und Maler Agnolo Bronzino, der zwischen 1527 und 1569 für seine Porträts von Figuren bekannt wurde, die auf Bücher verwiesen. Zwei großformatige Wandteppiche zeigen Fragmente von Bronzinos Porträt eines Jungen Mannes (um 1530), auf dem sich ein Finger zwischen die Seiten eines Buches schiebt und von Porträt von Laura Battiferra (um 1560), deren Finger auf zwei Sonette von Francesco Petrarcas Gedichtband Il Canzoniere weisen. Dieses Hervorheben von Händen, die auf Bücher deuten, erinnert an den sogenannten Index, ein Verweiszeichen, das erstmals im 12. Jahrhundert in Büchern auftauchte. Es handelt sich dabei um die Illustration einer kleinen, zeigenden Hand, mit der die Lesenden auf besondere Texte aufmerksam gemacht werden. In ihrer Beschreibung des Zeichens merkt die Autorin und Wissenschaftlerin Whitney Anne Trettien an, „der Index zwingt uns, die Grenze zwischen Lesen und Schreiben, zwischen dem Konsumieren und dem Produzieren von Text zu überschreiten.“² In diesem Grenzgebiet beginnen die Lesenden selbst Bedeutung zu generieren.
¹ Jordan Strom in Kathy Slade: This is a chord. This is another., 2018 Surrey Art Gallery. S. 11.
² http://blog.whitneyannetrettien.com/2009/03/more-cut-ups-hands-in-early-printed.html -
Alas, poor YORICK! (2002) ist eine Nachbildung der schwarzen Seite aus Laurence Sternes Epos Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman und macht die Betrachter_innen auf einen weiteren literarischen Moment aufmerksam. In seinem Roman kündigt Sterne den Tod Yoricks (ein fiktives Selbstporträt des Autors) mit dem Zitat des berühmten Ausrufs von Hamlet an. Auf der darauffolgenden Seite (Vorder- und Rückseite) finden die Leser_innen dann anstatt von Buchstaben eine rechteckige Fläche schwarzer Tinte vor. In Slades Fassung ist diese Seite gestickt. Die Künstlerin stellt damit eine Geschichte geschlechtsspezifischer Arbeit in der Textilkunst der männlich dominierten Kunstgeschichte des Monochroms gegenüber.
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In der oberen Etage der Villa Salve Hospes ist eine Auswahl von Kathy Slades Künstler_innenbüchern und Schallplatten zu sehen sowie von ihr verfasste, editierte und herausgegebene Publikationen. Die Vielfalt und der Umfang der Objekte reflektieren die Möglichkeiten, wie man den Begriff Buch verstehen kann: das literarische Buch, das Buch als Objekt, das Künstler_innenbuch. Neben den Büchern befindet sich auf den Möbeln und an den Wänden eine Serie von jaquardgewebten Decken – For the Readers (2018). Die vier Decken, jeweils auch als Duplikat im Raum, knüpfen mit reduzierten Linienzeichnungen oder Texten jeweils an Literatur oder Bücher an. Wie der Titel bereits nahelegt, sind die Decken für die Betrachter_innen und Lesenden sowohl zum Ansehen als auch zur Verwendung gedacht. Mit dieser Doppelfunktion wird das Verhältnis zwischen Betrachten und Lesen, häuslichem Umfeld und Ausstellungsraum und zwischen Nutzen und Ästhetik in Frage gestellt.
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Projects Class (2015) markiert einen Moment in Slades Karriere, als sich ihre Unterrichtstätigkeit und ihre künstlerische Praxis miteinander verbanden. Die Arbeit ist eine Neuinterpretation von David Askevolds Projektklasse, die ab dem Jahr 1969 am Nova Scotia College of Art and Design stattfand. In beiden Projekten forderten die Lehrenden (Askevold und Slade) jeweils zwölf Künstler_innen auf, einen Text zu schicken – Anweisungen, Vorschläge, Projekte –, den die Studierenden ausführen, umsetzen oder interpretieren sollten. Projects Class wurde zu einem semesterlangen experimentellen Kunstwerk und einer Kollaboration zwischen den eingeladenen Künstler_innen, den Studierenden und ihren Professor_innen, und führte zu einer radikalen Veränderung des Umgangs, sowohl der Studierenden als auch der Institution, mit Fragen der Ausbildung. Projects Class machte die Lehre und das Lernen zu einer künstlerischen Praxis und die Klasse selbst zu einem Kunstwerk.
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Den Abschluss der Ausstellung bildet Ulises Carrión: The New Art of Making Books (2015) – gewissermaßen eine Verdichtung von Slades Praxis. Über drei Bildschirme hinweg rezitieren Slades ehemalige Studierende den Text des Konzeptkünstlers Ulises Carrión mit dem selben Titel aus dem Jahr 1975, der dadurch in einem neuen, zeitgenössischen Rahmen sichtbar wird. Durch die Geste der Wiederholung, der Re-Präsentation und der Neu-Imagination erschafft Slade Dopplungen, die zu unwahrscheinlichen Geschichten führen und verführen und neue Verknüpfungen und Deutungsebenen ermöglichen.